Freitag, 16. September 2016
„Heimsieg“ für Near England
11 Pferde gehen an den Start für den letzten Klassiker der Saison. Das St. Leger 2016 in Dortmund ist auf dem Papier eine offene Angelegenheit. Aber im Turf spielen nicht nur Formen eine Rolle. Und eine Weisheit der Dortmunder Rennbahn lautet: Unterschätze nie die Starter des Gestüts Wittekindshof. Die Vorschau.

Wir schreiben das Jahr 1986, der Kolumnist hatte gerade begonnen, seinen Grundwehrdienst abzuleisten. Nicht irgendwo, sondern in Flensburg am oberen Ende der Republik. Fast schon Dänemark. In der Realität bedeutete das lange Bahnfahrten am Sonntagabend mit vielen Leidensgenossen und ganzer mieser Stimmung. Dennoch war ich am St. Leger-Sonntag 1986 auf der Rennbahn in Dortmund-Wambel und habe sogar die Siegerin Prairie Neba für 2,50 DM getroffen. Gewinn satte 41 DM, weil die Siegerin am Toto 164 stand. Meine Laune wurde besser, ohne gut zu werden. Aber alles sah doch sonniger aus, der Gedanke an das Geschreie im Grundwehrdienst wurde erträglicher.
Lange ist das her, die BW-Zeit ist längst Folklore, das St. Leger aber immer noch da. 30 Jahre später könnte es wieder einen Stutensieg geben. Die Ladies haben so und so eine gute Bilanz in der Prüfung. Starter und Chancen im 132. St. Leger in Dortmund.

1. Iraklion (Trainer Christian Sprengel/ Jockey Michel Cadeddu, GAG 87,0 kg): Das Pferd von Trainer Christian Sprengel lief immer in guter Gesellschaft, blieb aber meist ohne Chance. Den zweiten Platz hinter Protectionist würde ich nicht überbewerten. Außenseiter.

2. Mighty Mouse (Trainerin Annika Fust/Jockey Rene Piechulek, GAG 89,5 kg): In England gewann erstmals mit Trainerin Laura Mongan eine Frau das Leger, Annika Fust (ehemals Rosenbaum) könnte ihr in Deutschland folgen. Mighty Mouse kommt mit guten Formen an den Ablauf, es ist jedoch erst der zweite Start in diesem Jahr. Als geschontes Pferd durchaus gefährlich, wenn er die Distanz kann. Die ist nämlich Neuland.

3. Rock of Romance (Trainer Andreas Wöhler/Jockey Marc Robert Lerner, GAG 90,0 kg): Bewährter Steher, zuletzt überlegener Sieger auf schwerem Boden im Langen Hamburger und war dort unter anderem vor Summershine. Kandidat mit Chancen, aber nicht die Wahl des Stalljockeys. 2014 Dritter.

4. Tellina (Trainer Andreas Wöhler, Jockey Eduardo Pedroza, GAG ?): Der große Unbekannte. Gruppesieger aus Südafrika im Besitz des Gestütes Fährhof. Zuletzt im März in Meydan in sehr guter Gesellschaft unterwegs. Der letzte Sieg datiert aus dem Jahr 2014. Andreas Wöhler wird aber wissen, warum er den Silvano-Sohn im St. Leger an den Start schickt. Zudem ist er die Wahl des Stalljockeys.

5. Bebe Cherie (Trainer Markus Klug, Jockey Cäcilia Müller, GAG 89,5 kg): Zuletzt ohne Möglichkeit gegen Weltmacht, die sie Sonntag wieder trifft. Davor eine ordentliche Form hinter Wasir in Hoppegarten. Viel Stehvermögen, die 2800 Meter könnten schon ein wenig zu kurz sein. Besten Formen auf tiefen bis weichem Boden, den die Youmzain-Tochter wahrscheinlich nicht haben wird. Für andere Starter spricht mehr.

6. Summershine (Trainerin Anna Schleusner-Fruhriep/Jockey Bayarsaikhan Ganbat, GAG 78 kg): Solide Stute, zuletzt oft im Einsatz, beste Form war der zweite Platz im Langen Hamburger hinter Rock of Romance. Je länger die Strecke, desto besser. Dennoch wäre ein Erfolg schon rein rechnerisch eine Überraschung.

7. Techno Queen (Trainer Toni Potters, Jockey Daniele Porcu, GAG 93 kg): Im letzten Jahr großartig gesteigerte Stute, 2015 im St. Leger Zweite hinter Virginia Sun. In diesem Jahr immer in starker Gesellschaft unterwegs, zuletzt Dritte hinter Parvaneh in Baden Baden über 2400 Meter. Davor unterlag sie Ventura Storm, am letzten Samstag Zweiter im englischen St. Leger. Ein Pferd mit viel Speed und ersten Chancen.

8. Weltmacht (Trainer Markus Klug, Jockey Adrie de Vries, GAG 90 kg): Immer hoch in der Einschätzung des Kolumnisten, nur ein Gruppe 1-Pferd wurde sie nicht. Aber dennoch eine Starterin mit viel Potenzial. Zuletzt wehrte sie alle Angriffe im Badener Steherpreis über 2800 Meter ab. Die Wahl von Stalljockey Adrie de Vries und ein logischer Mitfavorit.



Die Prüfung 2014: Kaldera fängt Virginia Sun noch ab, ein Jahr später siegte die hier noch knapp Unterlegene

9. Buzzy (Trainer Guido Förster, Jockey Antoine Hamelin, GAG 75 kg): Dreijähriger, gewann ein Sieglosenrennen, danach im Derby, Listenrennen und Ausgleich 1 völlig chancenlos. Klarer Außenseiter, obwohl sein Vater Mamool ein großer Steher war.

10. Near England (Trainer Markus Klug, Jockey Andreas Helfenbein, GAG 91,5 kg): Die Gewinnerin des Hamburger Stuten-Preises über 2200 Meter auf tief-schwerem Boden, danach kam sie in der Diana nie ins Rennen. Nach Vorformen hätte ich etwas Bedenken, aber die Lord of England-Tochter sollte noch Reserven haben. Hinzu kommt der Wittekindshof-Faktor in Dortmund: Die Starter von Hans-Hugo Miebach, dem ehemaligen Präsidenten des Dortmunder Rennvereins, sind auf der Heimatbahn immer zu beachten. Das günstige Gewicht spricht zudem für die Stute.

11. She’s Gina (Trainer Markus Klug, Jockey Maxim Pecheur, GAG 91.5 kg): Die zweite dreijährige Stute im Feld. Respektable Leistung als Sechste im Preis der Diana als große Außenseiterin, das Pferd davor wertete die Form mit dem Badener Gruppensieg gewaltig auf. In Hamburg Dritte hinter der Stallgefährtin Near England, auch davor immer ordentlich gelaufen. Distanz ist neues Terrain.

Urteil
Natürlich haben Techno Queen und Weltmacht die besten Voraussetzungen, ist Rock of Romance ein bewährter Steher und hat Tellina schon ganz andere Gegner gesehen. Aber in Dortmund macht es sich bezahlt, die Wittekindshof-Pferde zu spielen. Near England ist eine talentierte Stute und könnte die Favoriten überraschen.



Mittwoch, 14. September 2016
Am Ende lachte George Baker doch
Große Freude und tiefes Leid liegen auch im Galopprennsport oft nahe beieinander. Das verlängerte Turf-Wochenende bot die ganze Palette. Von Tod bis zum totalen Triumph.

Es hätte so schön sein können. Der Renntermin am Abend auf der Rennbahn im Krefelder Stadtwald bot zwar keinen großen Sport, aber einen schönen Zeitvertreib. Solche Termine müsste es häufiger geben. Ein lauer Sommerabend mit Pferderennen und Biergarten.
Doch die Stimmung wurde schnell verhagelt: Zwei Pferde stürzten so schwer, dass sie nicht mehr zu retten waren. Petite Gold und Weißer Stern liefen ihr letztes Rennen, Brüche sind nur schwer reparabel bei einem Pferd. Die Voraussetzungen seien optimal gewesen, sagten Rennleitung und Rennverein nach den Vorfällen. Die Bahn staubte allerdings an manchen Stellen gewaltig.
Zum Glück gibt es tote Tiere nicht bei jedem Renntag. Pferde verletzen sich auch auf der Koppel, in der Box, auf den Galopps usw. Pferderennen sind definitiv keine Tierquälerei, wie manche nassforsche Tierschützer-Organisation behauptet.

Herzschlag
Dabei hatte das Galopp-Wochenende so gut angefangen. Freitagnachmittag, dritter Tag des St. Legers im nordenglischen Doncaster: Der Sport ist teilweise grandios mit tollen Pferden und Weltklasse-Jockeys. Die Rennen sind hartumkämpft, die Endkämpfe eng und dramatisch. Herzschlag-Finals. All‘ diese Dinge, mit denen etwa ein Formel 1-Rennen nie konkurrieren kann und die in ihrer Intensität auch manches Fußball-Spiel schlägt.
In den Scotsman Stakes, einem Listenrennen für zweijährige Hengste, endeten drei Pferde quasi in einer Linie. Rodaini, Salsabeel, Larchmont Lad – die Jockeys Silvestre da Souza, William Buick und Sean Levey machen die Prüfung zu einem echten Thriller. Am Ende gewinnt Rodaini mit da Souza, der Kolumnist hatte Larchmont Lad gewettet.
Schon vorher stockte dem Betrachter mehrfach der Atem: Im Doncaster Cup, der Gruppe 2-Prüfung über weite 3621 Meter, bestimmten Quest for More und George Baker von der Spitze aus das Rennen, doch am Ende siegte Sheikhzayedroad und Martin Harley. Mit einer Nase nach einem gigantischen Endkampf zweier Top-Jockeys. Offiziell gab es ein Foto-Finish, doch Harley wusste es scheinbar schon vorher und gab seinem Pferd einen freudigen Klaps.
Und auch Roger Charlton, der Trainer von Quest for More, hatte die Ahnung, dass es nicht reichen würde. „Das ganze Leben ist voller Qualen“, sagte er nach der Prüfung Attheraces-Interviewer Matt Chapman.
Für Jockey George Baker war der zweite Platz an diesem Tag nichts Neues: In den Mallard Stakes, der zweitwichtigstes Prüfung des Tages, sah er lange wie der Gewinner aus. Doch dann kam Wall of Fire und fing Seamour, den Ritt von George Baker, noch ab. Diesmal war er vielleicht etwas früh vorne, aber Seamour ist auch ein Typ von Pferd, das seinen eigenen Kopf hat. „Quirky“ nennen die Engländer das.

Geschichte gemacht
Baker ist für einen Reiter mit über 1,80 m sehr groß, sein ganzes Leben dürften Diäten, Hungern und eiserne Disziplin prägen. Am nächsten Tag lohnten alle Qualen. Denn da saß er im Sattel von Harbour View und triumphierte im englischen St. Leger.
Dazu wurde Turf-Geschichte geschrieben: Als erste Frau gewann Trainerin Laura Mongan den Klassiker über 2800 Meter, der erstmals 1776 ausgetragen wurde.
Der Sieg von Harbour View war eines dieser Erfolge, die den „Reichensport“ Galopp sympathisch machen. Mongan trainiert rund 20 Pferde – sowohl Flach als auch Hindernis – in Epsom, der berühmten Heimat des englischen Derbys. Ihr letzter Erfolg feierte sie im August in einem Class 5-Handicap in Brighton. Keine Ahnung, ob Aidan O’Brien jemals in seinem Leben ein Class 5-Handicap gewonnen hat. Wahrscheinlich nicht.
Ian Mongan, Lauras Gatte, ritt einst als Jockey für Henry Cecil und spielt eine wichtige Rolle in der täglichen Arbeit. „Henry Cecil sagte immer, gute Pferde machen gute Trainer“, erinnerte er sich in dieser Stunde des Triumphes an seinen alten Chef.
Diesmal hatte George Baker den richtigen Takt gefunden und den 230:10-Schuss zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt. Ein Raunen ging durch die Menge, als Harbour View an Ventura Storm und Housesofparliament vorbeizog und viel Stehvermögen zeigte.
„Für uns war es keine große Überraschung“, sagte hinterher Laura Mongan selbstbewusst. Doch Harbour View profitierte auch vom Sturz des Favoriten Idaho aus dem mächtigen O’Brien-Quartier mit Seamie Heffernan, der Mitte der Gerade ins Straucheln kam. Zum Glück blieben alle unversehrt.



Mittwoch, 7. September 2016
Sieger und Besiegte im Großen Preis von Baden
Freud und Leid liegen auch im Galopprennsport nah beinander. Sonntag nachmittag, der Große Preis von Baden, das zweitwichtigsten Rennen im deutschen Turfjahr, war gerade beendet. Im Mittelpunkt: der Sieger Iquitos, sein tüchtiger Trainer Hans-Jürgen Gröschel und der erfolgreiche Jockey Ian Ferguson. Kaum jemand interessierte sich hingegen für Boscaccio, die einstige Derby-Hoffnung, die diesmal abgeschlagen als Letzter im strömenden Regen die Ziellinie überquerte.

Natürlich war es eine grandiose Leistung von Iquitos, Trainer Gröschel und Jockey Ferguson, die den Großen Preis von Baden zu einer Demonstration gemacht hatten. Im Frühjahr hatte Iquitos schon den Großen Preis der Badischen Wirtschaft gewonnen und den großen Favoriten Ito in die Schranken verwiesen. Damals saß Norman Richter im Sattel und Trainer und Besitzer waren trunken vor Freude.
Hans Jürgen Gröschel hatte sein Trainerleben quasi gekrönt. Ein Mann, der schon vieles gesehen hatte im Turf, ein mit allen Wassern gewaschener Betreuer von Rennpferden. Eine seiner Qualitäten lag bzw. liegt darin, Pferde punktgenau zu den oftmals besser dotierten Meetings in Form zu bringen, Handicapper wohlgemerkt. Im Frühjahr gab es dann oben beschriebenen Gruppe 2-Erfolg und jetzt setzte der Bahnspezialist Iquitos (drei Starts, drei Siege lautet seine Iffezheimer Bilanz) noch einen drauf und triumphierte in der Champions League, einer Gruppe 1-Prüfung. Einfach nur gut, dieser Tag.
Das Gegenteil gilt für Boscaccio und seinen Anhang. Bekanntlich mag diese Kolumne das Pferd und hatte es auch gewettet. Wiedergutmachung für das enttäuschende Laufen als Favorit im Derby war angesagt, doch im prasselnden Regen ging Boscaccio schrecklich baden.
Schon zu Beginn pullte er stark, was immer ein schlechtes Zeichen ist. Später hatte ihn Dennis Schiergen beruhigt, doch souverän ging sein Partner nie. Spätestens als Schiergen ihn in dritter Spur nach vorne bringen wollte, schwanden die Hoffnungen. Das Pferd von Christian Sprengel hatte an diesem Tag mit dem Sieg nichts zu tun. Schon zu Beginn der Geraden stellte Dennis Schiergen alle Anstrengungen ein, im englischen Hindernissport würde man „pulled up“ sagen. Boscaccio war restlos geschlagen, Schiergen ließ ihn nur noch austrudeln.

Dreijähriges Desaster
Das sah wahrlich nicht gut aus. Ob es der weiche Boden war, der dem Hengst erneut den Zahn gezogen hat? Hoffentlich ist das Pferd gesund aus dem Rennen gekommen. Reaktionen der Verantwortlichen liegen mir nicht vor, online gibt es weder über Facebook noch über die Seite von Trainer Christian Sprengel etwas. Eine Anfrage blieb ohne Antwort. Enttäuschte sprechen nicht gerne in der Öffentlichkeit.
Der Große Preis von Baden war ein Desaster für die dreijährigen Hengste. Denn auch Dschingis Secret, der Derby-Dritte, lief schwach und wurde Vorletzter. Dabei hatte der seinen Boden. Was war der Große Preis von Baden in diesem Jahr wert? Wir zitieren einfach mal Harald Siemen: „Bei Lichte betrachtet muss man sagen, dass sowohl die Besetzung als letztendlich auch das Ergebnis – jedenfalls aus Sicht des Handicappers – enttäuschend war, denn die Dreijährigen blieben bis auf Pagella unter Form. Es gab zwar vier Gruppe-I-Sieger im Feld, aber bis auf Serienholde datieren deren Gruppe-I-Erfolge aus vergangenen Jahren. Zudem fehlten – aus unterschiedlichen Gründen – die vier Pferde mit dem bis dahin höchsten Rating in Deutschland: Protectionist, Ito, Isfahan und Savoir Vivre", schreibt der Chefhandicapper des deutschen Turfs in seinem Blog.
Die Verantwortlichen um Iquitos wird das wenig interessieren. Sie hatten ihren großen Moment.