Donnerstag, 22. Oktober 2015
Die einstigen „Himmelsstürmer“ von Westfalia Herne
Früher waren die Ansprüche doch ein wenig anders. Westfalia Herne spielt heute in der Westfalenliga 2, die sechste Klasse von oben gesehen im deutschen Ligasystem. Die Westfalia ist einer dieser Traditionsvereine aus dem Ruhrgebiet mit einer stolzen Vergangenheit und einer eher mauen Gegenwart.

Sonntag Nachmittag, der Sportplatz des SV Brackel 06 im Dortmunder Osten: Die Gastgeber empfangen in der Westfalenliga 2 Westfalia Herne. Es ist ein Duell, das vor Jahren keiner erwartet hätte.
Auf der einen Seite der SV Brackel 06: ein gut organisierter Vorortclub aus Dortmund mit einer starken Jugendabteilung. Früher kickte die 1. Mannschaft jahrelang in der Bezirksliga, in den letzten Jahren aber gab es offenbar zusätzliche Gelder. Neue höherklassige Spieler kamen und so bleib die Landesliga nur eine Zwischenstation. Seit dieser Spielzeit tritt Brackel in der Westfalenliga 2 an, die höchste Liga seit Vereinsbestehen.
Andererseits Westfalia Herne: Für den Club ging es in den letzten Jahren eher abwärts. In der letzten Saison folgte der Abstieg aus der Oberliga.
Rund 150 Zuschauer sind da, ein paar davon aus Herne. Besucher mit Schal und Trikot sind kaum zu sehen. Die Anhänger der Heimmannschaft kommen in Outdoor-Jacken und mit Regenschirm.
Das Spiel ist wie so häufig in der Westfalenliga: Torszenen gibt es wenige, die beiden Mannschaften neutralisieren sich quasi. Erst in der zweiten Halbzeit dreht Herne ein wenig auf, der vorher reichlich unauffällige Mittelstürmer Christian Knappmann – ein Veteran der Halbprofi-Ligen und unter anderem mal bei Borussia Dortmunds Zweiter Mannschaft aktiv – trifft zweimal. Brackel konnte nur noch auf 1:2 verkürzen.



Erinnerungen an bessere Tage: Westfalia Herne.

Herr Goldbach wollte nach oben
Für viele Herner Fans muss diese Spielklasse wie eine Demütigung wirken. Dabei liegen die glorreichen Zeiten weit entfernt. Von 1975 bis 1979 etwa, da spielte die Westfalia in der 2. Bundesliga, hatte eine namhafte Mannschaft und mit Erhard Goldbach einen Sponsor, der mächtig Geld in den Verein pumpte.
„Goldene Zeiten“, titelte das Fußballmagazin 11 Freunde über diese Zeit und zitierte dabei den Journalisten Harald Landefeld. „Wohl dem, der einen Goldbach hat«, schrieb dieser in der längst verblichenen Zeitschrift »Fußball-Woche«. „Was Westfalia Herne heute ist, ist es zweifellos durch diesen Mann geworden, der den Niedergang des Vereins in die Bedeutungslosigkeit radikal gestoppt hat. ‚Männer machen Mannschaften‘ – so hat Goldbach Westfalia Herne gemacht.“
Goldbach hatte die Tankstellen-Kette Goldin aufgebaut und wollte jetzt den maximalen Erfolg auch im Fußball. Die Bundesliga war das Ziel, dafür griff der Unternehmer tief in seine Tasche. Rund 200 000 bis 300 000 DM steckte Goldbach aus der eigenen Schatulle monatlich in den Klub.
Prominente Namen kickten in dieser Zeit am ehrwürdigen Schloss Strünkede: Die ehemaligen Schalker Klaus Scheer, Mittelstürmer Jochen Abel (der später beim VfL Bochum für Furore sorgte) oder Sören Busk, der in Herne zum dänischen Nationalspieler avancierte.
Auch der Trainer dürfte nicht billig gewesen sein: Irvica Horvath trainierte unter anderem den FC Schalke 04 zu Beginn der Siebziger Mannschaft. Eine Schalker Truppe, die vieles versprach, die sich aber durch die Teilnahme am Bundesliga-Skandal die Zukunft ruinierte.
Doch aller finanzieller Protz war vergebens. Herne blieb im Mittelmaß der Zweiten Liga stecken: 1975/1976 war es Platz 10, 1976/77 Platz 11, 1977/78 Platz 14. Erst 1978/79 wurde es mit Platz 5 deutlich besser.
Doch 1979 kam das große Erwachen. Erhard Goldbach hatte jahrelang betrogen und Steuern hinterzogen. Nach einer Razzia durch die Zollfahndung floh Goldbach und tauchte später in der Fahndung im ZDF-Klassiker Aktenzeichen XY auf. Das Zweitliga-Abenteuer von Westfalia Herne war jedenfalls zu Ende.

Vom Kellerkind zum Meister
So krass war der Absturz zu Beginn der sechziger Jahre nicht ganz. Ende der fünfziger Jahre, da war die Westfalia sogar mal die Nummer 1 in Deutschlands Fußball-Westen – vor Schalke 04, Borussia Dortmund oder dem 1.FC Köln.
In der Saison 1958/59 rockten die Herner die damalige Oberliga West. „Das war ein bisschen so wie der amerikanische Traum: vom Tellerwäscher zum Millionär. Herne hatte eine junge, sympathische Mannschaft, die begeisternden Fußball spielte. Die Himmelsstürmer waren der Liebling der Presse und des Publikums“, schrieb der Sporthistoriker Ralf Piorr.
Der 1955 gekommene Trainer Fritz Langner hatte den einstigen Abstiegskandidaten von Grund auf umgewandelt und die Mannschaft Jahr für Jahr mit Spielern aus der Umgebung verjüngt. Langner holte unter anderen den späteren Nationaltorhüter Hans Tilkowski aus dem Dortmunder Vorort Husen und Helmut Benthaus, später als Trainer sehr erfolgreich. Weitere Stützen des Teams hießen Alfred Pyka und Gerhard Clement.
Doch die Erfolge bleiben erst einmal aus, erst in der Rückrunde der Saison 1957/58 deutete sich die neue Stärke an. Ein Jahr später feierten die Herner dann den großen Triumph: Mit sechs Punkten Vorsprung vor dem 1.FC Köln und Fortuna Düsseldorf wurde der Underdog Meister der Oberliga West, Dortmund und Schalke landeten im geschlagenen Mittelfeld. Zuhause am Schloss Strünkede blieben die Langner-Schützlinge ungeschlagen. In der Endrunde zur Deutschen Meisterschaft aber scheiterte Herne. Es wäre auch zu schön gewesen.
Ein Jahr später belegte Westfalia Herne noch mal den zweiten Platz in der Oberliga West. Danach ging es Jahr für Jahr ein Stück abwärts, den Sprung in die Bundesliga 1963 schaffte Herne nicht. Und auch später blieb die Top-Klasse ein Traum – bis dann ein gewisser Erhard Goldbach diesen Traum realisieren wollte. Das Ergebnis ist bekannt.



1986 traf Westfalia Herne als Oberligist im Westfalenpokal auf den Dortmunder Landesligisten FC Merkur 07. Es regnete, das Spiel fand auf einem Aschenplatz statt, der gegen Spielende einer Schlammwüste ähnelte. Am Ende verlor Herne nach Elfmeterschießen und der klassentiefere Klub aus der Dortmunder Nordstadt jubelte. Der FC Merkur hatte auch dank einer exzellenten Nachwuchsarbeit damals eine sehr lange erfolgreiche Periode, zählte zu den erfolgreichsten Dortmunder Amateurvereinen. Heute kickt Merkur in der Kreisliga C, also ganz unten.